Wie entscheiden, wenn man nichts weiß?
Vorbemerkung: Abgesehen davon , dass der Text an sich lange Zeit seine
Bedeutung behalten wird, hat der US-Außenminister den Titel dieser Mail
vorgestern noch einmal unterstrichen, denn - laut Fernsehen - hat er
seinen Amtskollegen auf der NATO-Ratstagung die versprochenen
Beweise bezüglich bin Laden doch nicht
(KADO)
Von Wolf Freiherr von Zedlitz
Das "Opfer(USA)-Täter(bin Laden)-Modell" im Zusammenhang mit den Terroranschlägen in den USA ist nicht nur unvollständig, sondern auch gefährlich. Theoriegeleitete Überlegungen statt "Fakten" könnten zielführender bei der Suche nach einer "angemessenen Reaktion" sein.
Das erste Opfer eines Krieges ist immer die Wahrheit. Das sollte niemand
außer acht lassen, der sich über Hintergründe informieren will oder muß.
Die Angriffe auf das Pentagon und das World Trade Centre in der
vergangenen Woche sind als Kriegserklärung deklariert worden. Sie haben eine
beispiellose Welle von Informationen, Kommentaren und Reaktionen
provoziert.
Dabei ist eines besonders deutlich geworden: die westliche Welt macht es
sich unglaublich einfach. Opfer sind nicht nur die bislang ungezählten
Menschen, die dabei gestorben sind oder u.U. bis an Ihr Lebensende
verletzt worden sind. Opfer sind gleichzeitig "die USA" und die gesamte "zivilisierte
Welt". Da es kein Opfer ohne Schuldigen geben kann, müsse dieser
gefunden und bestraft werden. Da sich aber niemand als Täter bekannt hat, wird das
Suchen DES Schuldigen schwieriger, das Finden EINES Schuldigen aber
auch leichter. Die Anschläge haben den Mächtigen dieser Welt leider einen
Freibrief erteilt, mit Hilfe ihrer Geheimdienste den Schuldigen zu benennen,
den man schuldig sehen möchte. Was auch immer man über (Politik und)
Geheimdienste hört, es ist selten besonders appetitlich, moralisch oder
anständig. Es ist aber sicherlich oft pragmatisch. Das was wir (und die
Medien) erfahren, erfahren wir aber als "Erkenntnisse".
Es ist interessant zu hören, daß die Geheimdienste dieser Welt vorher
NICHTS wußten, aber schon ein paar Tage hinterher ALLES, was man braucht, um
moralisch autark handeln zu können. Man kann es durchaus verdächtig
finden, wenn Beschreibungen zum Führen eines Flugzeuges neben einem Koran
im Leihwagen eines der Attentäter entdeckt werden, als handele es sich um
die Gebrauchsanweisung für einen gerade gekauften Fernseher. Man kann
aber auch - ohne ignorant zu sein - vermuten, daß sich Attentäter, die sich zum
Piloten ausbilden ließen, ihr Handwerk "im Schlaf" beherrschen und kein
Handbuch mehr brauchen. Außerdem kann man es für wenig
wahrscheinlich halten, daß man diese Dokumente im Auto liegen läßt, genausowenig wie
den Koran in der wichtigsten Stunde des Lebens eines selbsternannen
Märthyrers.
Handelt es sich also um eine dreiste und dazu dümmliche Lüge, einen
törichten Schnellschuß des Geheimdienstes oder gar am Ende doch um die
Wahrheit, die zu den Drahtziehern führt ... ?
Unser Problem ist: wir wissen es nicht. Und auch die Medien wissen es
nicht.
Wir wissen auch nicht, ob die anderen "Beweise" wahr oder nur klüger
gelogen sind. Und trotzdem "wissen" wir alle, daß man nun Osama bin Laden zu
suchen hat. Wir SOLLEN also glauben, daß das Gute gegen das Böse zu Felde
zieht, daß mit aller Aufrichtigkeit recherchiert worden ist, daß man zweifelsfrei
Täter, Hintermänner und mitschuldige Staaten identifiziert hat. Es ist dabei
auffällig, mit welcher Vehemenz jede Meinung empört zurückgewiesen
wird, die nicht der oben genannten Opfer-Täter-Trivialität entspricht. Einmütig an
der Seite des Klassenfreundes zieht nun also auch die Nato und Europa in den
Krieg gegen die Bedrohung.
Aus gruppendynamischen Überlegungen läßt sich zumindest eine
ergänzende Sichtweise ableiten. Ohne einen "Schuldigen" bemühen zu müssen ist
offensichtlich, daß ein großer Teil der Welt keinen Anteil am Reichtum der
Welt hat. Bei jedem Einzelnen der so "Bedrückten" (um das
schuldzuschreibende Wort "Unterdrückten" zu vermeiden) ist ein
neidischer Blick auf die Besitzenden sehr wahrscheinlich. Jedem Einzelnen ist auch
zubilligen, es ungerecht zu finden, daß er ohne persönliche Schuld zu denen
gehört, die nicht einmal das zum Überleben notwendige haben und auch
keine erkennbare Perspektive das zu ändern. Die einen verarbeiten das mit
Resignation, die anderen mit Agression. Das menschliche Wesen, daß wir
mit den Bedrückten teilen ist da wenig differenziert; es gibt lediglich
Zwischenformen, mit dem wichtigen Unterschied, daß wir
glücklicherweise auf der Seite stehen, die keinen Anlaß zur Agression gegen die andere Seite
hat.
Auffällig bei den aktuellen Ereignissen ist besonders das Ausblenden der
Mißstände in der Welthandelsorganisation, des (mit entsprechendem
Engagement zu lindernden) Hungers in der Welt, der internationalen Waffenlieferungen
und vieles mehr, das sehr wahrscheinlich einen wesentlichen Anteil am
Zorn gegen "die zivilisierte Welt" hat.
Schließlich bietet aber diese (subjektiv) empfundene Ungerechtigkeit ein
wunderbares moralisches Polster für Dritte, sich mit den Bedrückten zu
identifizieren und zu solidarisieren, auch aus der Position des
"Unbedrückten". Mit platten Feindbildern lebt es sich auch auf der anderen
Seite der Welt moralisch autark. Agression sucht sich Ventile. Es ist pures
Glück, wenn wir es irgendwie hinbekommen, daß diese Agressionen lokal
ausgelebt werden, als Kampf der Ethnien untereinander (Feinbilder, die
sich sicherlich auch ohne unser Zutun ergeben), als Kampf der Religionen
gegeneinander, als Kampf um Wasser, Nahrung, Land und Macht. Und
wenn die Waffen nicht ausreichen, um den aufgestauten Agressionen ausreichend
Nachdruck verleihen zu können, dann kann man sie sicherlich kaufen ...
und manchmal sogar geschenkt bekommen, wenn man für eine "gute" Sache
kämpft.
Ein Segen für uns, wenn sich die Wut dort entlädt, wo "konkrete
Interessen" gegeneinander stehen, ein Segen, wenn die Waffen dafür nur bis zum
Kriegsberichterstatter und bis zu unseren Bildschirmen reichen.
Wehe aber, wenn zivile Flugzeuge zu Bomben und Menschen zu Waffen
werden, wenn der Kampf um "konkrete Interessen" zum Nebenschauplatz
geworden ist, weil Wut, Zorn und (inzwischen "blinder"?) Haß nicht mehr zu bändigen
sind.
Was muß ein Mensch erlebt haben, um sein eigenes Leben in den Dienst
einer so aussichtslosen Idee zu stellen? Hier sind wir auf die oben genannten
Vermutungen angewiesen. Ich habe aber mit Bedacht vermieden, das
Problem als das eines "bösen", ohne Anlaß mordenden Wahnsinnigen dazustellen,
sondern als dramatisch folgerichtiges Ergebnis eines gruppendynamischen
Prozesses.
Es ist keine isolierte Tat, sondern das SYMPTOM eines
undurchschaubaren kybernetischen Ablaufes. Wenn es der eine nicht tut, tut es ein anderer.
Die persönliche "Schuld" des Täters steht also auf einem GANZ anderen Blatt.
Wenn wir diese Hypothese weiterverfolgen (und dafür gibt es verdammt viele plausible Gründe), steht aber zumindest eine Hypothese der "zivilisierten Welt" auf dem Prüfstand: Wenn wir Osama bin Laden eliminieren und alle seine Soldaten auch, wenn wir durch internationale Terrorbekämpfung erfolgreich jedes Ventil der Agression verstopfen, ist dann "das Böse" besiegt, und wir sind in Sicherheit ? Mit welcher Begründung wagen wir zu hoffen, daß sich die Agression der Bedrückten nicht irgendwo und irgendwelchen Formen zeigen wird. Die ABC-Szenarien sind alle hundertfach durchgespielt, wir haben uns als "verwundbar" bekannt und Europa hat sich (nicht nur innerhalb der NATO) selbst in das Fadenkreuz des "Bösen" manövriert. Während die Weltgemeinschaft öffentlich den Terror verrteilt und erschwert, wird die Bedrückung in aller Heimlichkeit neue Wege finden.
Ich behaupte: wir haben keine Chance, den Terrorismus zu "besiegen" und machen alles nur noch schlimmer. Wir sind dabei, den Spiegel, den uns die schrecklichen Ereignisse von New York vorgehalten haben, tölpelhaft mit Aktionismus zu zerschlagen und uns gleichzeitig unserer Freiheiten zu berauben. Wir haben aber eine Chance, den Terrorismus "unnötig" zu machen. Dafür müssen wir aber das Unvorstellbare versuchen: die Ereignisse als Anlaß anzunehmen, alles dafür zu tun, zunächst den Schaden zu begrenzen, um uns dann vorzunehmen, unverzüglich den Welthandel gerechter zu gestalten, den Hunger in der Welt anzugehen und die Schöpfung auch dort zu bewahren, wo wir sie nicht sehen. Wir müssen uns dafür beschränken, wo immer es notwendig ist. Wir sind all das - wenn wir nicht an einen Schöpfer glauben wollen - zumindest uns und unseren Kindern schuldig, denn sie müssen den Sturm ernten, den wir als Wind sähen.
Zunächst aber aber müssen wir den Herrschenden dieser Welt verbieten, uns jedesmal den Spiegel wegzunehmen, bevor wir einen klaren Gedanken fassen können, uns durch kollektive Trivialisierung zu Trotteln zu degradieren, die man mit platter "Wahrheit" füttert und sie so zu Werkzeugen des eigenen Machterhalts- und Ausbaus macht. Ich sage nicht, daß wir belogen oder betrogen werden. Ich sage nur, daß wir es prinzipiell nicht beurteilen können, da der Aufrichtige nur gegen einen dummen Lügner eine Chance hat.